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Lebensperspektiven und das Leben im Augenblick

Bettina Orlando und Birga Berndsen im Gespräch

Birga Berndsen: Hallo, liebe Frau Orlando! Heute wollten wir über Ihre Unterstützung von und Ihr Miteinander mit Angehörigen sprechen. Vielleicht über die Herausforderungen, vor denen diese stehen.

Bettina Orlando: Hallo, ja, sehr gerne. Die Unterstützung der Gäste und ihrer Angehörigen im Umgang mit dem Abschiednehmen ist ein ganz großer Teil unserer Arbeit.

BB: Ich stelle mir vor, dass Trauer über die unheilbare Krankheit und Verzweiflung über den nahenden Tod natürlich sehr präsent sind. Vielleicht können wir hierauf ein anderes Mal zu sprechen kommen. Welches sind emotionale Belastungen des Alltags, die weniger naheliegend sind?

BO: Eigentlich müssen wir nur daran denken, wie es für uns ist, wenn ein Familienmitglied oder enger Freund erkrankt. Das macht ganz viel mit uns und hat Einfluss auf so viele Aspekte unseres Lebens. Wenn dieser Mensch unheilbar erkrankt ist und dann in ein Hospiz kommt, dann gerät das gewohnte Leben aus den Fugen. Manchmal ist es sogar die Entlastung, die zur Belastung wird, wenn pflegende Angehörige Schuldgefühle haben, weil sie die Partner*in oder einen Elternteil nicht mehr zuhause versorgen können. Gewohnte Rollen, Alltagsroutinen, alles, was das gemeinsame Leben ausmachte, verändert sich oder ist verloren. Und das ist nicht nur vorübergehend, sondern ein Abschied, der bald auf immer ist. Das ist in so vieler Hinsicht belastend. Oft brauchen die Angehörigen dann Unterstützung, um die Perspektive wechseln zu können und auf das zu schauen, was noch gemeinsam möglich ist, zu sehen, wie man die verbleibende Zeit wertvoll gestaltet.

BB: Was Sie beschreiben, klingt nach einem wirklich herausfordernden Prozess.

BO: Sie haben vielleicht schon einmal von den fünf Phasen der Trauer und des Abschiednehmens im Sterbeprozess gehört. Sie wurden bereits Ende der 60iger von Elisabeth Kübler Ross beschrieben. Die fünf Phasen sind Leugnen, Wut, Feilschen und Verhandeln, Depression und Annahme. Die Phasen laufen aber nicht alle geordnet nacheinander ab, sondern überschneiden oder wiederholen sich, wechseln binnen kurzer oder längerer Zeiträume oder ein Mensch erlebt sie nicht alle. Manchmal spricht ein Gast an einem Tag davon, sich zu wünschen, dass es bald zu Ende geht und schmiedet am nächsten Tag Zukunftspläne. Diese Ambivalenz ist völlig normal, aber für Angehörige ist die scheinbare Unentschlossenheit, sind Wankelmut und Unsicherheit oft schwer zu ertragen. Es ist vielleicht leichter zu verstehen, wenn wir mal darüber nachdenken, wie wir als relativ gesunde Menschen unseren Alltag leben: Wenn wir mitten im Leben stehen, haben wir – und das ist menschlich – tendenziell immer das Gefühl, dass alles möglich ist. Wenn ich in meinen kleinen Alltagsentscheidungen einen Fehler mache, setze ich halt neu an und gehe einen anderen Weg. Wenn ich eine falsche Entscheidung treffe, dann habe ich grundsätzlich das Gefühl, ich kann das ja noch ändern, nächstes Mal halt anders entscheiden oder etwas zu einem späteren Zeitpunkt nachholen. Im Hospiz, zum Lebensende, bin ich plötzlich in einer Phase, in der mein Spielraum sehr begrenzt ist. Alles, was ich jetzt entscheide, kann ich morgen vielleicht nicht mehr revidieren oder das, wogegen ich mich entschieden habe, nicht mehr nachholen. Das misst jeder Entscheidung ein großes Gewicht bei und kann sehr unsicher machen.

BB: Inwieweit sind Angehörige davon betroffen?

BO: Wünsche und Bedürfnisse des Gastes können sehr ambivalent sein und sich häufig, mitunter stündlich, ändern. Das kann Angehörige verwirren und auch unglücklich machen, weil sie den Eindruck haben, dass sie dem geliebten Menschen nichts recht machen können oder einfach den wechselnden Ansprüchen und Wünschen nicht mehr hinterherkommen. Die letzten Tage, Wochen und Monate sollen so schön und harmonisch wie möglich sein und alles, was schwierig scheint, wird umso schwieriger. Nur hat das Leben die Eigenart, dass nicht immer alles geradlinig und wie geplant verläuft, und es herrscht nicht immer Einigkeit. Und auch im Hospiz, wenn es zeitlich begrenzt ist, hält sich das Leben an keine Regeln. In Gesprächen können die Mitarbeiter*innen der Pflege und die Psycholog*innen den Angehörigen helfen, mit den widersprüchlichen Gefühlen und Wünschen umzugehen und in einer extremen Situation ein Stück Normalität zu finden.

BB: Wie gehen Sie und Ihre Teammitglieder mit dieser Phase um?

BO: Wir sind nicht in gleicher Weise emotional involviert wie die Angehörigen und nehmen es nicht persönlich, wenn ein Gast sich anders verhält, als wir es vielleicht erwarten. Wir möchten, dass unsere Gäste ihre Zeit bei uns so symptomfrei und unbelastet wie möglich erleben, aber wir wissen auch um die Schwierigkeiten. Unsere Gäste erleben eine zunehmend eingeschränkte Welt und die Perspektiven werden enger – die hieraus resultierende Unsicherheit ist gut nachvollziehbar. Wir können diese Zeit begleiten, nicht ändern. Und herausfinden, was gewollt und was möglich ist. Und so passiert es auch, dass wir uns vielleicht tagelang bemüht haben, einen Wunsch zu erfüllen und dann möchte es der Gast doch anders. Er hat ein neues Ziel oder ein Symptom ändert sich. Und das ist völlig ok. Das vermitteln wir auch den Angehörigen.

BB: Beeinflussen diese Erfahrungen eigentlich Ihr persönliches Leben? Der Boden unserer Perspektiven ist nur vermeintlich sicher. Auch unsere Leben können plötzlich zu Ende sein. Verschieben Sie weniger Dinge?

BO: Ach, ich weiß nicht. Man mag es nicht glauben, aber auch ich habe immer noch nicht meine Patientenverfügung geschrieben. Ich denke, was ich durch die Hospizarbeit mehr und mehr lerne, aber auch durch Krankheiten und Sterblichkeit im eigenen Umfeld und der Familie: im Hier und Jetzt und im Augenblick zu sein. Je mehr Erfahrungen ich sammle, um so mehr weiß und spüre ich: Vieles lässt sich langfristig nicht planen, das Leben kommt so häufig mit Überraschungen dazwischen. Es schlägt Haken, nimmt Wendungen, bringt große Herausforderungen. Oder aber zunächst scheinbar unlösbare Probleme, Ängste und Sorgen werden plötzlich ganz klein und handzahm. Wir können immer nur auf das reagieren, was gerade vor uns liegt. Darin sind wir uns alle gleich, an welchem Punkt in unserem Leben wir auch stehen.

BB: Danke, liebe Frau Orlando.

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