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Von der Kunst, eigene Wertvorstellungen zurückzunehmen

Bettina Orlando und Birga Berndsen im Gespräch

Birga Berndsen: Liebe Frau Orlando, wie schön, dass wir wieder beisammen sind und unser Gespräch fortführen!

Bettina Orlando: Ja, das finde ich auch. Herzlich willkommen!

BB: Bei unserem letzten Austausch ging es um die positive Atmosphäre im Hospiz, um das, was das Leben lebenswert macht und das mögliche Spannungsfeld zwischen Autonomie der Gäste und Fürsorge der Mitarbeiter*innen. Wir wollten den Gesprächsfaden an dieser Stelle wieder aufnehmen und vertiefen. Ich habe über diese Aspekte in den vergangenen Wochen oft nachgedacht. Zunächst: Was für ein Weg kann es sein, der Ihrer Fürsorge zuwiderläuft?

BO: Wenn ein Mensch sich dem Leiden ausliefert, das ist oftmals schwer zu ertragen. Wenn ein Gast trotz stärkster Beschwerden keine lindernden Schmerzmittel nehmen möchte. Oder Essen und Trinken verweigert und so sein Leben bewusst verkürzt. Gerade in der Pflege sind wir so sozialisiert, dass wir etwas tun wollen, um Leiden zu lindern. Es widerstrebt uns emotional zutiefst, jemanden sein zu lassen und für sich zu wählen, was er tragen und ertragen möchte. Wenn ein Gast sich bewusst für einen Weg entscheidet, müssen wir seine Entscheidung respektieren. Das heißt nicht, dass wir nichts tun. Wir können begleiten und beistehen, durch eine Einreibung oder Wärmekissen bei Schmerzen oder guter Mundpflege gegen Durstgefühle. Oft einfach durch unsere Präsenz. Begrenzt ist unser Handeln nur durch juristische Rahmenbedingungen oder die eigenen Möglichkeiten. Die eigenen Wertvorstellungen müssen wir zurückstellen bzw. dürfen sie nicht höher bemessen als die unseres Gastes.

BB: Welche eigenen Werte könnten es sein, die trotzdem die Begleitung eines letzten Lebensweges unmöglich machen?

BO: Es ist wirklich interessant, da fällt mir kaum etwas ein. Eigentlich sind es wenige Werte, die unvereinbar sind mit den Wünschen eines Gastes. Die aktive Sterbehilfe, Wünsche, die rechtlich unzulässig sind, nehme ich hier einmal aus. Auch der assistierte Suizid lässt sich mit einer hospizlichen Haltung nicht wirklich vereinen. Wer sich für dieses Thema interessiert ist eingeladen, sich die Aufzeichnung unserer Podiumsdiskussion anlässlich der Hospizwoche 2021 anzuschauen. Mir fällt – eher als Begrenzung – beispielsweise das ethische Prinzip der Gerechtigkeit ein. Es gibt Gäste, die sehr viel Begleitung brauchen und dies auch nachdrücklich kommunizieren können. Wir müssen aber auch unsere Gäste unterstützen, die weniger Selbstbewusstsein haben oder nicht mehr für sich sprechen können und ebenfalls viel Fürsorge benötigen. Wir müssen dann abwägen und manchmal auch priorisieren, um allen Gästen gerecht zu werden. Das ist manchmal eine Herausforderung, aber nichts ist unmöglich.

Es gibt Situationen, wenn eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter eine Familienkonstellation oder ein Gast zum Beispiel zu sehr an einen Angehörigen erinnern, dann könnte darum gebeten werden, dass jemand anderes die Begleitung übernimmt. Wir sind alle Menschen mit unseren persönlichen Grenzen und das darf auch so sein.


BB: Die Angehörigen spielen gewiss auch eine wichtige Rolle bei Ihnen?

BO: Ja, natürlich, unbedingt. Da wir gerade bei den Grenzen, den eigenen Wertvorstellungen sind: Tatsächlich sind Familiendynamiken, die unseren eigenen individuellen Werten widersprechen, mitunter schwer zu ertragen. Aber: Wir müssen sie akzeptieren. Es ist nicht unsere Aufgabe, Dynamiken, die wir als ungesund oder dysfunktional wahrnehmen, aufzulösen, dieser Anspruch wäre anmaßend und übergriffig. Die Vorstellung, dass am Lebensende nochmal alles heil gemacht wird, ist und bleibt oft ein Klischee. Es kann viel Versöhnung stattfinden, aber manchmal ist der letzte Weg so, wie das Leben war und es bleibt ein offenes Ende. Das wird im Fernsehen oft sehr verklärt dargestellt. Diese unrealistische Vorstellung, dieses vermeintliche Ideal kann Gäste und Angehörige sehr unter Druck setzen. Auch Mitarbeiter*innen, die neu sind, haben oft große Probleme damit, wenn Familienverhältnisse eines Gastes schwierig sind. Streitereien am Bett des Gastes. Angehörige, die alle Auskunft möchten, aber nicht miteinander reden wollen – die Erfahrung hilft, mit allen möglichen Situationen und Konstellationen umzugehen und alle Beteiligten zu begleiten, ohne sie oder ihr, oft lebenslang gewachsenes, Verhältnis ändern zu wollen.

BB: Vermutlich würden Sie sich sonst in diesen Situationen und Konstellationen ganz verlieren?

BO: Ja und es ist eine Riesen-Herausforderung, nicht zu werten, nicht zu bewerten. In schwierigen Konstellationen neigen wir instinktiv dazu, Stellung zu beziehen. Ich kann nichts für jemanden tun, wenn ich nicht in der Lage bin, eine neutrale Perspektive einzunehmen, indem ich einen Schritt zurücktrete und mich und meine Einschätzung aus der Situation nehme. Sobald ich Stellung beziehe, bin ich nicht mehr objektiv, werde Teil der Konstellation. Das hilft niemandem.

BB: Gelassenheit und Neutralität, um fürsorglich sein zu können…

BO: Ja! Dabei besonders interessant ist: Ich muss mir meiner eigenen Haltung sehr bewusst sein, um sie überhaupt herausnehmen zu können. Dabei fällt mir auf, dass ich – gewiss auch bedingt durch meine Arbeit im Hospiz – ebenfalls im Privaten sehr klare Haltungen entwickelt haben. Sie stützen mich und vereinfachen vielfach das persönliche Miteinander, so empfinde ich es. Wenn ich weiß, wo ich stehe, was mich hält, kann ich anderen Menschen viel offener gegenübertreten, weil deren Anders-Sein mich nicht bedroht. Ich kenne meine eigene Haltung sehr gut.

BB: Um Halt zu geben, aber vermutlich auch, um mitunter „Halt“ sagen zu können.

BO: Ja, auch das kann sehr wichtig sein. Zum Beispiel, wenn Angehörige darauf dringen, dass ein Gast Schmerzmittel bekommt, weil sie meinen, dass er oder sie doch Schmerzen haben müsse, wir jedoch sehen, dass der Mensch einfach angestrengt ist. Angehörige fehlinterpretieren mitunter, wir bekommen dann den Vorwurf: „Warum tun Sie denn nichts dagegen?“ Es gibt aber Verhaltensweisen, die zu den letzten Tagen und Stunden dazugehören, die man nicht abstellen kann. Die Angehörige in ihren Sorgen aufzufangen, sie zu begleiten, braucht genauso viel Zeit wie die Gäste selbst, mitunter sogar mehr.

BB: Die Begleitung und Unterstützung von Angehörigen sind ganz bestimmt ein eigenes Gespräch wert?

BO: Oh ja, das sind sie. Ich freue mich darauf und wünsche wie immer – Tage voller Leben.

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